Donnerstag, 25. Juli 2013

Ein Mord, eine Hochzeit und Essen bis zum umfallen

Die Fahrt nach Tunceli beginnt mit einem Mord - an zwei Spatzen. Die Vögel sitzen gemütlich auf der Strasse, ich denke, die gehen dann schon weg wenn ich komme. Päng! Mit 100 km/Stunde erwische ich zwei (Jonas behauptet es wären drei). Unser Auto wird zur Attraktion. Leute überholen uns, um die Vögel, die noch immer vorne am Auto kleben, besser sehen zu können. Wir haben die Hoffnung, die toten Spatzen fallen von selbst irgendwann ab. Das passiert nicht, also entfernt Jonas sie auf meinen Wunsch.

Auf dem Weg bringen wir Danielle und Jolan nach Diarbakir, unsere Wege trennen sich wieder. Verzweifelt suchen wir in der Stadt den Busbahnhof. Die Stadt ist eine riesige Baustelle. Es herrscht Verkehrschaos, nichts ist ausgeschildert. Bis jetzt habe ich es vermieden in grösseren Städten am Steuer zu sitzen, ich liess das - ganz nach türkischem Vorbild - Jonas machen. Wir werden das auch in Zukunft wieder so machen, ich besitze deutlich zu wenig Gelassenheit für den Verkehrsdschungel türkischer Städte.

Tunceli ist eine unzugängliche Region mit tiefen Schluchten und Bergketten bis zu 3600 Metern Höhe. Gleichzeitig ist Tunceli - oder Dersim, wie die Region vor der Umbenamsung durch Atatürk hieß - der  freieste Ort Ostanatoliens. Die Bevölkerung Tuncelis besteht zu 98% aus kurdischen Aleviten. Obwohl der Stadt in den Neunzigerjahren eine Moschee aufgezwungen wurde und der Islamunterricht seit über zwei Jahrzehnten Pflichtfach in den Schulen ist, trägt nach wie vor keine alevitische Frau ein Kopftuch. Der Alevismus zeichnet sich durch eine liberale und humanistische Auslegung der Religion aus. Nichtsdestotrotz - oder gerade deswegen - haben sich auch in Tuncelis Geschichte dunkle Kapitel abgespielt. 1938 brachte die türkische Armee in Dersim bis zu 70’000 Aleviten um. Im Rahmen der Staatsgründung der Türkei in den 1920er Jahren waren die Aleviten eine der tragenden Kräfte, da sie sich durch Einführung des Laizismus eine Gleichberechtigung gegenüber den Sunniten erhofften. Atatürk war jedoch die Struktur der Stämme ein Dorn im Auge - es stand im Widerspruch zu seinen Republikanismus und seinem Modernisierungsstreben. Zudem stieß er sich auch an der ethnischen Herkunft der Religion der Aleviten - das stand im Widerspruch zu seiner Vorstellung von einem homogenen türkischen Nationalstaat. Ethnisch-religiösen Minderheiten haftete der Geruch des Separatismus an. Als das Gerücht auftauchte, einige Stämme würden einen Aufstand vorbereiten, fasste die türkische Regierung 1937 den Beschluss zur Durchführung der Operation "Züchtigung und Deportation". Grosse Teile der Bevölkerung der Provinz wurde erschossen, erstochen, verbrannt und deportiert. Umstritten ob die Ereignisse von 1938 einem Genozid entsprechen oder nicht - sind sie zweifelsohne eines der dunkelsten Kapitel der Türkei seit deren Staatsgründung.

Bis heute werden die Aleviten, die zwischen 10% und 25% der Bevölkerung der Türkei ausmachen, vom Staat nicht als eigenständige und gleichberechtigte Bevölkerungsgruppe anerkannt. Seit der Reislamisierung der Türkei ab den 1970er Jahren wurden viele Aleviten und alevitische Gemeinden assimiliert.

Zudem ist zu erwähnen, dass sich in den 1980er Jahren der türkisch-kurdische Konflikt durch den bewaffneten Aufstand der PKK radikalisierte. Das türkische Militär begann einige Gebiete in der Südosttürkei zu evakuieren. 1986 wurden ca. 50’000 Bewohner der Provinz Tunceli deportiert  an die Mittelmeerküste verbracht. Heute noch sind die Berge rund um Tunceli Rückzugsgebiet der PKK-Aktivisten. Obwohl es seit einigen Monaten ruhig ist und kein Anschlag mehr stattgefunden hat, sehen wir nirgends so viel Militär wie in Dersim. Aufgrund der diversen historischen Ereignisse lebt eine bedeutende Diaspora der Dersim-Bevölkerung heute im Ausland, vor allem in Deutschland.

In Tunceli besuchen wir Gülüstan, die Tante mütterlicherseits meiner Freundin aus der Schweiz. Natürlich könnten wir auch hier bei Gülüstan und ihrem Mann Hidir übernachten. Trotzdem entscheiden wir uns für ein Hotel. So sind wir ein bisschen freier. Da die beiden 35 Jahre in Frankfurt gelebt haben unterhalten wir uns auf deutsch. Beide haben am Flughafen gearbeitet, die Schichten so gelegt, dass sich immer jemand um die beiden Kinder kümmern konnte.  Die Kinder und Enkel leben in Deutschland, und Gülüstan vermisst sie oft. Aber hier in Tunceli ist das Klima angenehmer und mit der deutschen Rente führen die beiden in der Türkei ein gutes Leben. Als wir uns am ersten Abend nach Essen und dem obligaten Tee verabschieden ist es uns noch zu früh um schlafen zu gehen. Wir nutzen die Gelegenheit in Tunceli wieder mal Alkohol zu bekommen (was in den traditionellen Orten der letzten Tage wegen des Ramadan schwierig gewesen wären) und gehen noch einen Raki trinken.

Am nächsten Tag machen wir mit Gülüstan und einer ihrer Freundinnen einen Ausflug an den Fluss und gehen schwimmen. Am Abend nehmen uns Gülüstan und Hidir an eine türkische Hochzeit mit. Böse Zungen behaupten die Hochzeiten in Tunceli seien Fliessbandhochzeiten. Da zu türkischen Hochzeiten zwischen 500 und 1000 “Gäste” kommen, sind die Durchführungsorte begrenzt. Also findet im Sommer jeden Abend irgendeine Hochzeit statt. Die Snacks werden (Flugzeugessen-ähnlich) abgepackt serviert, Alkohol gibt es keinen. Die Gäste kommen und gehen wie es ihnen passt, Hauptsache der Betrag des geschenkten Gelds oder Golds stimmt. Braut und Bräutigam haben ihre Wurzeln in Tunceli, wohnen aber heute in Holland. So sind wir nicht die einzigen Ausländer und fallen nicht auf.

An der Hochzeit treffen wir Freunde von Gülüstan und Hidir, die uns im Anschluss zum Essen einladen möchten. Wir haben noch nicht zu Abend gegessen, und an der Hochzeit werden nur Snacks serviert. Als wir um 10 Uhr aufbrechen haben wir trotzdem nicht mehr wirklich Hunger. In der Annahme wir essen alle zusammen, und aus Höflichkeit, willigen wir ein etwas kleines zu essen. Wir betonen, dass wir nur wenig Hunger haben und wirklich nur etwas Kleines möchten. Es wird bestellt - und als der Kellner das Essen serviert (das alles andere als klein ist) wird uns klar, dass unsere Freunde nur für uns essen bestellt haben. Für sie selber sei es zu spät zum essen. Anatolische Gastfreundschaft. Der kleine Appetit, den ich bis zu diesem Zeitpunkt noch verspürte, löst sich augenblicklich in Luft auf. Jonas und ich geben uns aber tapfer, essen soviel wir können. Das Essen plagt mich die ganze Nacht, die Bauchkrämpfe werde ich nur durch eine Tablette wieder los.

Von Tunceli fahren wir wieder nach Malatya, wo wir das Auto zurückgeben. Bevor unser Nachtbus fährt treffen wir uns noch mal mit Fidan und Mehmet zum Abendessen. Vor dem Essen fragt uns Fidan ganz unauffällig, was wir normalerweise in der Schweiz so essen. Wir sagen wir essen viel Pasta. Als wir bei Ihnen zuhause zu Tisch gebeten werden, stehen neben Lahmacun und anderem türkischen Essen auch Spaghetti mit Tomatensauce auf dem Tisch. Mehmet hat unterwegs Spaghetti organisiert. Anatolische Gastfreundschaft.



Die Schluchten Dersims



Unterwegs mit Gülüstan und ihrer Freundin



Familientreffen am Fluss


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen